Ausstellungshalle 1a

Britta Lumer, Margit Seiler

Britta Lumer malt riesige überlebensgroße Köpfe mit einer überraschenden multiperspektivischen Transparenz. In vielen Schichten verwaschener Tusche auf Papier bezeugt sie eine herausragende handwerkliche Meisterschaft. Margit Seiler formt mit ihren extrem unterlebensgroßen Skulpturen aus weichem Stein abstrahierte Körperfragmente, die für sich ein ruhiges, meditatives Ganzes darstellen.
Auf einer interpretatorischen Ebene geht es in dieser Ausstellung um Fragen der fragmentierten Multiplizität von menschlicher Identität und somit auch um unser Selbstverständnis als humane Subjekte in einer zerrütteten Zeit.

über Britta Lumer: "Lange Sicht", Daniel Marzona, zur gleichnamigen Ausstellung, Galerie Daniel Marzona, Berlin 2018:

Britta Lumer (geb. 1965 in Frankfurt am Main) hat in den vergangenen Dekaden ein in sich konsistentes Werk erarbeitet, das sich zum Großteil auf Papier ereignet und sich dennoch nicht ohne Weiteres als ein zeichnerisches begreifen lässt. Denn hier wird nichts Gegenständliches gefasst oder getroffen und in der künstlerischen Darstellung festgehalten oder aufbewahrt. Stattdessen scheinen ihre durchaus ins Figurative spielenden Arbeiten auf Papier - nicht selten monumentale Ansichten von Körpern, Portraits, Architekturen und Stadtlandschaften - ihre Sujets jeweils an den Rand der Auflösung, der Verflüssigung zu treiben. Diesem beabsichtigten Sprung ins Ungefähre, entspricht der Einsatz der malerischen Mittel. Für ihre großformatigen Tuschezeichnungen hat sie einen vollbeweglichen Arbeitstisch konstruiert, um die fließende Tusche in alle Richtungen dirigieren zu können. Jahrelang hat sie an innovativen Arbeitstechniken gefeilt, um eine stimmige Balance zwischen dem Planbaren und Zufälligen stets neu ausloten zu können.
So erscheint in ihren Bildern nichts an seinem festen Platz, alles an Kontur könnte grundsätzlich auch in anderen Spuren verlaufen. Doppelungen, lineare Verschiebungen, Pigmentansammlungen, Verläufe von Hell-Dunkel-Kontrasten offenbaren ein Maß an Kontingenz, das uns das Dargestellte fremd werden lässt und sich dennoch in gesteigertem Maße zur kontemplativen Betrachtung eignet. Statt fertige Projektionen zu liefern, erarbeitet Lumer Projektionsflächen, zu deren Vagheit und Zartheit, wir uns als Betrachter nie so verhalten können, als ließe sich das zu Sehende als eine Formulierung von bereits Bekanntem deuten. Vor den Bildern Lumers betreten wir jeweils noch nicht kartografiertes Neuland, müssen uns langsam den Weg durch tränenartige Schlieren, großräumige Leerstellen und den darin aufscheinenden präzise ausformulierten Konturen bahnen, um nach und nach ein Verhältnis zum Gesehenen aufzubauen. Hängt ein Großteil der zeitgenössischen Figuration am Tropf der Narration, verweigern sich die Bilder Lumers grundsätzlich dem Anschluss an eine weiterführende Erzählung - sie brauchen ihn auch nicht. In auratischer Autonomie beharren die Arbeiten stoisch auf der Einsicht, das nichts von sich aus etwas bedeutet, dass ein Bild ohnehin nur dann zum Leben kommt, wenn es ihm gelingt, einen Raum zu schaffen, in dem sich der Betrachter als gemeint erkennen kann, ohne ihn bereits in Gänze durchschritten zu haben. Im Kontrast zu der uns alltäglich umspülenden Bilderflut, zu der permanten sinnentleerten Vergewisserung unserer selbst in der nicht endenden Hervorbringung und Verbreitung banaler Selbstinzenierungen (treffend Selfies genannt) zeigen Lumers Bildschichtungen, was dieser verblödenden, weltumspannenden Bildmaschine aus künstlerischer Perspektive entgegegenzustzen wäre. Nicht in der Zone, in der beständig Bekanntes als Neuheit perpetuiert wird, kann Selbsterkenntnis reifen, sondern nur dort, wo uns ein Raum gewährt wird, uns mit dem Unvertrauten, dem Fremden, dem Anderen in ein unvoreingenommenes Verhältnis zu setzen - und genau in dieser Zone hat die Arbeit Britta Lumers ihren Ort.

Britta Lumer lebt und arbeitet in Berlin. Von 1992 bis 1996 studierte sie an der Städelschule in bei Georg Herold und Per Kirkeby. Anschließend bis 1997 an der Kunstakademi in Bergen/Norwegen bei Luc Tuymans und Lawrence Weiner.

Ihre Arbeiten wurden gezeigt: in der Arthena Art Foundation I Kai 10 in Düsseldorf (2023), Kunstsammlungen Chemnitz (2023); Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Georg Nothelfer Berlin (2023,2022.2021) im Brandenburgischen Kunstverein, Potsdam (2017); am Institut für Moderne Kunst, Nürnberg, Hunter College Art Galleries NY (2008) u.v.a.

Sie befinden sich in folgenden öffentlichen Sammlungen: Deutsche Bank Collection; Kunstmuseum Basel, Museum für Gegenwartskunst; Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett Berlin; Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich Kabinett Dresden; Kunstsammlungen der Stadt Chemnitz; Hessische Kulturstiftung; Agnes Gund Foundation, NYC u.a.

Read more: www.brittalumer.de
See more: www.instagram.com


über Margit Seiler: Eine bestimmte Zärtlichkeit
, Jean-Christophe Ammann in „Kunst? Ja, Kunst“; Westendverlag, Frankfurt 2014
:

1999 fragte der Journalist Heinz Scholz Margit Seiler: „Welche Rolle spielen Füße in ihrem Leben?“ Die Künstlerin antwortete: „Füße sind unser Fortbewegungsmittel. Füße sind das Körperteil, das am weitesten vom Kopf entfernt ist, bilden somit den Gegenpol zu einer verstandesmäßigen Sicht der Dinge, zu Rationalität und Vernunft. Füße sind sehr individuell, dem Gesicht und den Händen vergleichbar, jedoch ein Körperteil, das zumeist verdeckt und wenig beachtet ist. Dadurch haben sie etwas sehr Intimes. Füße können auch sehr schön sein und implizieren Erotik auf eine Art. Ich betrachte gerne die Füße der Menschen, Gang und Schuhwerk, und auch die Art, wie und wo ein Schuh ausgebeult ist. Habe einen Schuhtick, lackiere gerne die Fußnägel, liebe es, die Krümmung der Zehen und ihre Zwischenräume zu betrachten – manchmal als eine Form der Rückbesinnung und Kontemplation.
An einer Biennale in Venedig, viele Jahre ist es her, zeigte Oliviero Toscani – er schuf die aufrüttelnden Benetton Plakate in der zweiten Hälfe der 1990er Jahre – einen mit Farbfotos vollgepflasterten Raum, auf denen frontal das nackte Becken von Menschen jeglichen Alters zu sehen war. Zuerst fiel natürlich das Geschlecht bzw. der Schambereich ins Auge. Auf den zweiten Blick ergab sich eine völlig andere Situation, nämlich das Ähnliche und das Verschiedene der Beckenkonstruktion und des Schenkelansatzes. Mit anderen Worten: Es ging Toscani um die Physiognomie von der auch Margit Seiler spricht.

Ihre Skulpturen in Gasbeton (Y-tong) sind vom Gewicht her leicht, im Maßstab annähernd 1:1. Das helle grau der porösen, geschliffenen Oberfläche lädt zur Berührung ein. Ja, es gibt eine Erotik der Berührung, vor allem in Anbetracht der steil aufgerichteten Füße, der weiblichen Torsi, der hochschwangeren Bäuche, der Kniegelenke in aufrechten Beinen, der melonenrunden, leicht versetzten Pohälften, von denen Margit Seiler einmal lachend sagte, sie fände den einen Hintern etwas ordinär.
Wer immer einmal, zum Beispiel in Italien, in den weiträumigen Treppenhallen von Renaissancegebäuden in Griffnähe vorhandene Skulpturen betrachtet, wird feststellen, dass gewisse Körperstellen einen Hauch von dunkler Patina besitzen. Es können die Zehen sein, eine Ferse, ein Busen. Menschen, seit Jahrhunderten, berühren diese Stellen, geistesabwesend aber mit dem Instinkt, dass das kreisende Betasten Glück brächte oder Unheil abwende.
Margit Seiler hat für die Erotik der Physiognomie die haptische Qualität gefunden. Ein Kunstwerk soll man nicht berühren. Aber das Berühren mit den Augen ist nicht nur gestattet, es ist eine dem Begehren immanente Notwendigkeit. Das Berühren mit den Augen meint das imaginierende Umfangen, Abtasten, Einkreisen: Dieses Poröse der Oberfläche, auf der man nicht ausgleitet, auf der man gleichsam die Poren einatmet, befühlend einatmet.

Margit Seiler (geb. 1968 in Marburg) studierte von 1991 bis 1997 an der Städelschule Frankfurt bei Ulrich Rückriem und Thomas Bayrle. Ihre Arbeiten sind u.a. in der Sammlung des Museums für Moderne Kunst Frankfurt und des Landes Hessen vertreten. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Read more:
www.margitseiler.de

 

Ausstellung
Britta Lumer, Margit Seiler
Mehr als die Summe der Teile
Aug 30 – Sep 22


Kontakt
Dr. Robert Bock 
Schulstraße 1A
60594 Frankfurt am Main

ausstellungshalle.info
kunstbock@web.de

 
Zurück
Zurück

1822 – Forum der Frankfurter Sparkasse

Weiter
Weiter

Kabinett Kunststiftung DZ BANK